Ein Song, zwei Künstler
David Bowie & Iggy Pop - China Girl
Ein Song, zwei Künstler
David Bowie & Iggy Pop - China Girl
Gepostet am Donnerstag, 06.05.2021 von Patrick

Zwei Künstler schreiben einen Song, einer der beiden nimmt ihn auf. Wird nicht so erfolgreich. Der andere nimmt ihn neu auf. Wird sehr erfolgreich. Oder noch kürzer: David Bowie & Iggy Pop. „China Girl“.

Es war Juni 1976. David Bowie hatte gerade seine „Isolar – 1976 Tour“ hinter sich gebracht, Iggy Pop hatte ihn als Freund begleitet. Sie hatten mehrfach darüber gesprochen, dass David für Iggy nach der Tour ein Album produzieren sollte – sein erstes Soloalbum. Und beide hatten sich entschieden, ihrem vorherigen Leben zu entkommen, das hauptsächlich durch die Drogenkultur Los Angeles geprägt war. Sie wollten nach Europa ziehen.
So mieteten sie sich zunächst für zwei Monate im Château d'Hérouville, einem Tonstudio in der kleinen, französischen Gemeinde Hérouville-en-Vexin ein. Dort entstand eine Menge der Songs, die für Iggys Album vorgesehen waren. Im August reisten sie dann nach München, um die restlichen Aufnahmen zu machen. Nachdem diese Aufnahmen fertig waren, kamen die beiden nach Berlin. Diese Stadt sollte ihre Heimat für die nächsten gut zwei Jahre werden, und gleichzeitig auch ihr Arbeitsort. In den legendären Hansa Studios mixten sie schließlich das Iggy Pops erstes Soloalbum, The Idiot.

Funfact: Während es in den meisten Fällen Iggy Pop war, der von David Bowies Art zu arbeiten und zu sich zu präsentieren beeindruckt war, entdeckte David bei der Zusammenarbeit etwas an Iggy, was ihn beeindruckte und er für spätere, eigene Aufnahmen übernahm: Iggy improvisierte oftmals die Texte erst in dem Moment, als er am Mikrofon stand und das Tape lief. Genauso entstanden kurze Zeit später dann auch viele Songs von Davids nächstem Album Heroes.

Liebessong oder Drogengeschichte?

Einer der Songs, die Bowie und Pop gemeinsam geschrieben hatten, war „China Girl“. In Bowies Biografie Starman wird verraten, dass der Song durch eine Liaison zwischen Iggy Pop und einer wunderschönen Vietnamesin, Kuelan Nguyen, entstanden sein soll. In einer Dokumentation bestätigte Iggy vor wenigen Jahren, dass „China Girl“ in der Tat von einer wahren Frau handelt, die mit irgendjemandem zusammen war und die Iggy „halt so kennenlernte“.
Eine andere Interpretation sieht in dem Text eine Anspielung auf Drogen. So steht China für China White, in den USA eine Bezeichnung für Heroin, und girl steht für Kokain. Vermischt man beide Drogen, hat man also ein china girl, erhält man einen Speedball. Auch wenn Iggy und David beide drogenabhängig waren und die Idee, einen Song darüber zu schreiben, dann gar nicht so abwegig ist, gibt es anders als bei der Lovestory keine Bestätigung über diese Interpretation.

Das Original von Iggy Pop

Single-Veröffentlichung von Iggy Pop, 1977

Obwohl der Song 1976 aufgenommen wurde, wirkt der Sound von „China Girl“ eher wie aus einer älteren Zeit, vielleicht aus den 60ern. Es klingt sehr grob und kratzig, fast schon etwas dreckig. Und dann noch die besondere Stimme von Iggy Pop dazu, die an der einen oder anderen Stelle auch übersteuert und verzerrt. Wahnsinnig emotionsgeladen und ansteckend. Alles in allem sehr gewöhnungsbedürftig, ein Song zum drauf einlassen. Denn wenn man das tut, kann man ihm mögen.

Genauso wie das Album The Idiot war auch die Single „China Girl“ kein großer Erfolg. Während das Album es in den UK Album Charts auf Platz 30 und in den USA immerhin noch auf Platz 72 schaffte, floppte die Singleauskopplung komplett. Bis heute ist der Song in der Originalversion von Iggy Pop ein Geheimtipp.

Das Cover von David Bowie

Single-Veröffentlichung von David Bowie, 1983

Gut fünfeinhalb Jahre nach der Veröffentlichung von Iggy Pops Version arbeitete David Bowie an seinem neuen Album Let’s Dance. Dabei hatte er Unterstützung vom legendären Gitarristen und Produzenten Nile Rodgers. Nachdem sie den Titelsong für das Album fertig hatten, spielte Bowie ihm eine Aufnahme von „China Girl“ vor. Er war überzeugt davon, dass der Song ein Hit werden könnte, wenn er das gewisse Etwas hätte. Rodgers kam dann auf die Idee, ein markantes Gitarrenriff zu spielen, das ein bisschen asiatisch angehaucht war, um dem Titel gerecht zu werden. Doch er wusste nicht, wie David es finden würde. „Entweder würde David es so unfassbar hassen und mich rausschmeißen, oder aber er würde diese lustige Komponente verstehen, so einen verrückten kleinen Lovesong zu machen“, wird er zitiert. Und David liebte es.

Unterm Strich sind die Gemeinsamkeiten zwischen der Originalversion und der Version von David Bowie an einer Hand abzählbar. Der Text ist gleichgeblieben. Die Akkorde und die Melodie zum Großteil auch. Der Rest ist anders.
Davids Version ist schneller, was an den zusätzlichen zehn BPM liegt. Sie spiegelt den frühen 80er-Jahre-Pop wider, mit ein paar Rockelementen, so wie auch der Rest des Let’s Dance-Albums. Und auch wenn Davids Stimmlage durchaus Ähnlichkeiten zu der von Iggy hat, so ist seine Stimme viel sanfter und wärmer, an der einen oder anderen Stelle sogar schon etwas lasziv. Damit macht David Bowie „China Girl“ zu dem tanzbaren Lovesong, der er ist. Er ist genauso emotionsgeladen wie schon die Originalversion, aber eben auf eine andere, auf eine intensivere Art. Das alles abgerundet und perfektioniert durch die Gitarrenklänge von Nile Rodgers.

Nachdem die Originalversion in kommerzieller Hinsicht gefloppt war, wurde „China Girl“ in der Version von David Bowie 1983 ein Hit. Platz zwei in den UK Singles Charts, Platz zehn in den USA und Platz sechs in Deutschland.
Und auch Iggy Pop schien vom Erfolgsrezept Bowies Version angetan zu sein. Hört man sich nämlich Live-Aufnahmen von späteren Iggy Pop-Konzerten an, dann merkt man auf einmal eine gewisse Annäherung an die Bowie-Version. Zwar verzichtet er auf das Gitarrenriff, aber auf einmal zeigt auch Iggy eine etwas sanftere und poppigere Seite.

Die wahre Bedeutung von „China Girl“

Passend zur immer größer werdenden Bedeutung von Musikvideos, ausgelöst durch den Start von MTV gut zwei Jahre zuvor, bekam auch „China Girl“ ein Musikvideo der besonderen Art. Analog zum Liedtext wird auch im Video die Lovestory zwischen dem männlichen Protagonisten und dem china girl gezeigt. Der Protagonist, gespielt von David Bowie selbst, wird als hypermaskulin dargestellt, die Romanze zwischen ihm und dem „little china girl“ als rassistisch, voll von Klischees und asiatischen Stereotypen. Neben einer Nacktszene gegen Ende des Videos, die für die damalige Zeit schon skandalös genug war, bekamen Musikvideo und auch der Song an sich mitunter einen rassistischen Beigeschmack, wenn auch nur bei den Leuten, die sich wirklich damit beschäftigten. Doch das war genau das, was Bowie wollte.

„Ganz einfach, ganz direkt. Die Botschaft, die sie [die Musikvideos zu „Let’s Dance“ und „China Girl“] haben, ist ganz simpel – es ist falsch ein Rassist zu sein!“, zitiert der Rolling Stone David Bowie. Um die wahre Bedeutung dieses Songs erkennen, muss man zwischen den Zeilen lesen – wie so oft bei Bowie-Songs. Runtergebrochen war es eine ganz einfache Formel: Bowie verwendet eine rassistische Objektifizierung einer Frau als „my little china girl“ und auf der anderen Seite den wahnsinnig tollen Mann aus dem Westen, der „alles ruiniert, was sie ist“, der ihr „blaue Augen“ serviert und „einen Mann, der die Welt regieren will“. Er zeigt das auf, was er selbst als falsch ansieht, und verurteilt es, indem er einen Song drüber macht.
Man kann natürlich in diesem Song einen einfachen Popsong sehen, mit der einen oder anderen Anzüglichkeit im Text, der eine Liebesgeschichte erzählt und zu dem man gut tanzen kann. Aber dann kratzt man nur an der Oberfläche. In Wirklichkeit ist es eine offene Kritik am Rassismus und dem Blick der westlichen Gesellschaft auf die östliche. Es ist ein weiterer Ausdruck der Genialität David Bowies.

Ein Song. Zwei Künstler.

Nun bin ich jemand, der bis vor Kurzem nur die Bowie-Version kannte und natürlich auch davon ausging, dass es das Original sei. Und das ist mir mittlerweile auch schon etwas unangenehm. Denn auch wenn es David Bowie war, mit Unterstützung durch Nile Rodgers, der den Song zu einem Hit machte, so hat auch die Originalversion von Iggy Pop etwas ganz Besonderes.

Ein Song, gemeinsam geschrieben von Iggy Pop und David Bowie, aber von beiden Künstlern auf völlig unterschiedliche Art und Weise interpretiert. Das ist die Geschichte von „China Girl“.